Gedankenströme

Schardtverlag (www.schardtverlag.de)

Autoren L – Laupus, Monika

 

Roman

Ein paar Worte zum Manuskript „Gedankenströme“

Ainoa verfügt über besondere telepathische Fähigkeiten. Sie wird von Gedanken überströmt. Mit Hilfe des Mondes gelingt es ihr, die Gedanken zu ordnen, zu filtern. Gedanken repräsentieren Farben. Die Welt wird bunt.

Ainoa begegnet Marzin, einem Notarzt, welcher ebenfalls paranormal aktiv ist. Beide arbeiten daran, die Bedingungen auf der Erde zu verbessern. Es gibt einen Kreis von Gedanken, welcher den Planeten umgibt: die Gedankenströme. Es gilt, sie mit positivem Gedankengut zu nähren. Die Wesen auf der Erde schauen zu ihnen auf. Nach und nach werden sie einsichtig, friedlich, optimistisch.

Rückschläge sind jedoch nicht zu verweisen. Die Hauptstädte der Welt erleiden einen Angriff mit biologischen Waffen. Nachdenklichkeit kommt auf.

Ainoa stellt ein Solarprojekt auf die Beine, ein umweltpolitischer und wirtschaftlicher Erfolg. Schließlich betreiben Ainoa und Marzin eine Herberge für Menschen, die den Tod durch eigene Hand anstreben. Der Weg aus der Einsamkeit bringt vielen Hoffnung, ihre Schwierigkeiten anzugehen.

„Gedankenströme“ soll uns daran erinnern, dass sich vieles ändern könnte, wenn die Wesen auf der Erde zusammenhalten würden und den Weg der Vernunft beschritten.

Auszüge aus „Gedankenströme“ von Monika Laupus

 Seiten 49 – 63

Farben im Kopf

Die Nachtstunden sind bunt. Ich schlafe in Farben. Es ist ganz eigenartig. Als sei ein grauer Nebelschleier von der Sonne aufgehoben worden. Als sei ein Prisma aufgetaucht, dass das Licht in unzählige Farben streut. Im Traum erscheinen die Farben kräftig und klar. Das ist zunächst lebendig und gleichzeitig erholsam. Doch dann beginnen die Farben plötzlich sich zuzuordnen. Sie repräsentieren Gedankengruppen. Ich stehe auf einem mit Gras bewachsenen Hügel  und aus allen Richtungen strömen Gedanken herbei. In meiner Hand halte ich eine große Farbpalette. Mit einem Pinsel bemale ich die ankommenden Gedanken. Ich färbe sie ein. Dann entscheide ich, ob ich sie zulasse oder nicht. Die Gedanken, welche mir Angst machen, übergebe ich dem Schwarzen. Dort sollen sie ruhen, bis sich ihre für mich negative Kraft gelegt hat.

Alle Farben, die der Mond mit mir besprochen hat, sind gegenwärtig. Ich habe den Eindruck, dass der Traum hier sein Ende nimmt. Doch dann erscheint eine fremde, neue Farbe. Lila. Sie hat eine sternartige Form angenommen und leuchtet beinahe vorsichtig. Verwundert schaue ich sie an. Kein Gedanke lässt sich ihr zuordnen. Ich spüre nur diese angenehme Gegenwart. Dann ist sie verschwunden.

Ich blicke zum Mond und frage ihn, was es mit Lila auf sich habe. Er strahlt und schweigt. Ich wache auf. Es ist früh morgens. Ich notiere den Farbentraum. Anschließend gehe ich in meinem Zimmer umher und sammele alle Gegenstände, die lila sind. Ich lege sie beieinander und betrachte sie eingehend. Den Kugelschreiber, das Brillenetui, den Kleiderbügel, Australien und Kasachstan auf der Landkarte, den USB Stecker… Lila ist eine schöne Farbe, aber ich komme nicht dahinter, was es mit ihr auf sich haben könnte.

„Guten Morgen“, sagt der Mond. Ich bin überrascht, dass er sich bereits meldet. „Guten Morgen, weiser Mond“, antworte ich.

„Du bist sehr schnell gewesen, Ainoa. Du hast die Farben gleich nach unserem Gespräch wieder aufleben lassen. Nun wird es dir gelingen, eine farbliche Vorauswahl der Gedanken zu treffen. Im Prinzip sind es Signalfarben, die von weitem schon ihren möglichen Inhalt ankündigen. Willst du dich nicht mit ihnen auseinandersetzen, so leite sie um oder verschiebe sie – insbesondere aggressives Gedankengut – in Richtung Schwarz, bis sie sich beruhigt haben. Ich weiß nicht, ob es dir bewusst ist, aber du bist dabei, ein Energiefeld aufzubauen bzw. zu reaktivieren. Dieses Feld schützt dich, ist eine Art Selbstverteidigung. Wie dein Körper sich dem Karate bedient, so arbeitet dein Geist auf mentaler Ebene. Es ist alles eine Frage des Trainings, und du begreifst schnell. Hörst du mir überhaupt zu, Ainoa?“

„Ich denke an Lila. Was bedeutet Lila? Sie hat keine Gedanken ausgesandt. Sie war einfach nur da. Und schön.“

„Darüber kann ich im Augenblick nicht sprechen. Es würde dich zu sehr verwirren. Wir müssen erst einmal an deiner Lebensgeschichte weiterarbeiten. Wie fühlst du dich? Bist du in der Lage, bereits heute deine Jugendzeit in Angriff zu nehmen?“

„Ja, denn du sagst mir nichts über Lila. Ich würde die ganze Zeit nur über Lila nachdenken. Nun gut, machen wir weiter.“

 

Jugend

Das ist eine Zeit, an die ich mich noch weniger gerne erinnere, als an die Kindheit oder die Zeit davor. Ich habe keine Lust, irgendwo hin zu fahren und riskiere es, in meiner Wohnung zu bleiben, um den Schritt in die Jugend zu tun. Ich lege mich auf mein Bett und blicke an die Decke. Dann schließe ich die Augen, um mich besser konzentrieren zu können. Ich blocke die Gedanken der Gegenstände um mich herum ab. Das gelingt zwar nur teilweise, aber für den Anfang ist das schon ein großer Erfolg. Einige „Angriffe“ habe ich in Schwarz abgelegt. Einige sind durchgekommen. Schwierig ist es auch, das wohlgesonnene Bett zum Schweigen zu bringen, denn es sendet ja vorwiegend positive Gedanken.

Nun gelingt es mir, eine gewisse Ruhe in der Wohnung zu schaffen. Jetzt kann ich versuchen, in die Vergangenheit zu reisen.

Alles scheint orange zu sein. Mir wird ganz schwindelig. Die Schüler der Sonderschule waren in diesem Punkt wie alle anderen. Es wurde permanent orange gedacht. Ich saß auf der Schulbank und hatte furchtbare Angst. Manchmal lief ich hinaus, als könnten die Gedanken im Klassenzimmer zurückbleiben. Meine Eltern wurden zum Klassenlehrer bestellt. Dieser machte auf mein Verhalten und meine mangelnde Mitarbeit im Unterricht aufmerksam und wies darauf hin, dass auch ein Sonderschüler sitzen bleiben könne. Schließlich kam es auch so. Ich wiederholte dieselbe Klasse zweimal, bis die Lehrer Gnade walten ließen und es mit der gesetzlichen Schulpflicht zu Ende war.

Dann begann eine recht gute Zeit, denn ich beschloss zu reisen. Ich wollte herausfinden, ob in anderen Gegenden die Gedanken sanfter gehen. Mein Vater stellte sich dagegen. Reisen ist viel zu gefährlich. Außerdem findest du dich ja nicht einmal in deiner Heimat zurecht. Wie soll das erst in der Fremde werden? Im Grunde meinte er, ich sei zu dumm, um meinen Weg zu finden. Das war schrecklich für mich.

Da schaltet sich der Mond ein. „Ich weiß, dies hat dich sehr verletzt, doch nur deshalb, weil es nicht zutrifft. Wärest du so, wie dein Vater dich einschätzte, so hättest du diese Feinheiten gar nicht bemerkt. So, nun versuche dich erneut zu konzentrieren.“

Ich packte meine Sachen und ging. Mutter steckte mir etwas Geld zu und bat, dass ich hin und wieder anriefe. Ich versprach es ihr und verließ die Wohnung. Ich lief und lief und fragte mich, wohin ich überhaupt wollte. Ans Meer. Doch an welches? Die richtig schönen Wellen sollen am Atlantik sein. Also machte ich mich auf in das Nachbarland Frankreich. In dem Wirrwarr von Gedanken suchte ich nach Urlaubsstimmungen. So fand ich eine Stelle zum Trampen. Nach einiger Zeit hielt ein Fahrzeug an, dass mich mit nach Paris nahm.

Der Mond nickt. „Du hast deine telepathischen Fähigkeiten verwendet, ohne dir darüber klar zu sein. Du hast sie benutzt, um deine Ziele umzusetzen.“

Paris war eine unglaublich chaotische Stadt, doch irgendwie gefiel sie mir dennoch. Ich machte die Erfahrung, dass Gedanken keine Sprachkenntnisse brauchen. Das fand ich sehr interessant. Das Denken wird in Inhalten übermittelt. Das hieß natürlich auch, dass ich den denselben brummenden Kopf hatte wie zu Hause.

Als ich mir die Stadt ansah, wurde ich oft belästigt. Aber es gab auch weiterbringende Begegnungen. Ein Philologiestudentin erzählte mir, sie sei auf dem Weg nach La Rochelle, um dort zu surfen. Wir entschieden, den Weg dorthin gemeinsam zu bestreiten. Als wir dort angekommen waren, trennten wir uns, und ich fühlte mich irgendwie alleine. Ich glaube, das ist mein Hauptproblem. Ich stelle immer wieder fest, dass ich einsam bin und so richtig kann ich mich daran nicht gewöhnen.

„Ich weiß, Ainoa, du bist schon viele Jahre allein. Doch das wird sich ändern. Denn dies ist so vorbestimmt. Hab noch ein wenig Geduld. Du musst erst mit dir selbst ins Reine kommen, dann wirst du auch zu Begegnungen fähig sein.“

„Du spricht von Lila“, füge ich an. Der Mond grinst. „Lassen wir es gut sein für heute. Ruhe dich aus!“

Wie soll ich mich ausruhen? Dieses Lila macht mich halb wahnsinnig. Was mag sich dahinter verbergen? Ich werde malen. Das ist eine angenehme Tätigkeit. Etwas entstehen lassen. Formen und Farben. Als ich fertig mit dem Bild bin, blickt mich ein lila Auge an. Mein Herz rast, denn es ist als sei es wirklich. Es blickt mich sanft an. Ich nehme es und hänge es an die Wand über meinem Schreibtisch. Dann sehe ich leichte orange Punkte. Erschreckt bedecke ich es mit einem weißen Papier. Ich gehe in meinem Zimmer auf und ab. Ungefähr eine Stunde lang. Schließlich entferne ich das weiße Blatt und entscheide mich, dem Blick des lila Auges standzuhalten.

Langsam wir es dunkel. Ich gehe ins Nebenzimmer und lege mich auf mein quietschvergnügtes Bett. Der Schlaf kommt nur langsam. Zu intensiv ist das Auge. Doch dann versinke ich in Träumen und Tiefschlaf.

Im Traum sehe ich einen Krankenwagen vorfahren, nein, sogar mehrere. Sie scheinen an allen Stellen gleichzeitig zu sein. Die Rettungssanitäter rasen wie Pfeile von einer Stelle zur nächsten. Manchmal ist es dennoch zu spät, doch oft können sie helfen. Plötzlich sehe ich mich in meiner Wohnung am Boden liegen. Die Balkontür ist offen und ein Arzt klettert herein. Er nimmt das lila Auge von der Wand, fügt ein zweites hinzu, reicht es mir und verlässt die Wohnung so wie er gekommen war.

Ich erwache und sitze im Bett. Ich eile zu dem Bild an der Wand. Es hat sich nicht verändert. Wer war dieser Mann, der das zweite Auge malte? Und weswegen? Was wollte er nur hier? Ich habe Angst.

„Ainoa, nun fürchte dich doch nicht. Es ist alles in Ordnung. Ich wollte dir jetzt noch nicht davon erzählen, sagt der Mond, aber du bist wieder einmal schneller gewesen. Ich hoffte, mit dir die Vergangenheitsreise beenden zu können.“

Ich bin etwas verwirrt. Warum soll nun alles ein Ende nehmen?

„Es ging darum, dich vorzubereiten, denn wer um Vergangenes weiß, der wird durch die Gegenwart eine positive Zukunft bilden. Nun hast du Lila gerufen. Keine sie, kein es, sondern ihn. Und wenn du an ihn denkst, dann kann er nicht mehr warten. Er hat schon so lange gewartet. Über 21 Jahre. Ich habe ihn gebeten, stark zu sein, aber er sagt, ihm fehle die Kraft. Er müsse deinem Ruf folgen. Das musste ich akzeptieren. Ainoa, was schaust du denn so betrübt? Was macht dir Angst?“

Alles war so verwirrend in meinem Leben. Nun habe ich mit deiner Hilfe einen Weg beschritten, der mich zügig voranbringt. Ich möchte den Kontakt zu dir nicht verlieren. Außerdem fürchte ich die orangen Punkte im Lila.

„Natürlich, ich hätte gleich daran denken sollen. Wenn du Lila begegnest, dann wirst du verstehen, dass orange sich in ein farbiges Bild einfügen lässt und du wirst Freude daran haben.“

Ich weiß nicht. Irgendwie ist mir das alles zuviel. Ich fahre ans Meer und genieße die Weite. Am Strand der Halbinsel Rhuys liegen zahllose Steine und Steinchen. Ich setze mich und nehme einen in die Hand.

„Ich bin nicht Lila“, denkt er. Was soll das? Diese Farbe verfolgt mich. Ich bin hergekommen, um an andere Dinge zu denken. Es scheint, als wüssten alle um mich herum Bescheid außer mir. Ich frage den Stein, woher er diese Information hat. Er lacht und denkt: „Wir freuen uns alle für dich.“ Ich lache ebenfalls. Sind denn alle hier verrückt geworden? Ich grabe Löcher und baue Sandburgen, bis ich völlig erschöpft bin. Dann geht es mit dem Sonnenuntergang zurück nach Vannes. Ich wasche mich und lege mich schlafen.

 

Die Begegnung

Mein Körper ist schwer. Es ist, als sei er an das Bett gehaftet. Jetzt könnte ich den ganzen Tag hier liegen und vor mich hinträumen. Und das mache ich auch. Für andere mag das ein sinnloser Zeitvertreib zu sein, doch ich sammele hierdurch Kräfte für später. Natürlich denke ich wieder an Lila. Diese sternförmige, angenehme Farbe scheint durch den Raum zu schweben. Ich döse vor mich hin. Falle in leichten Schlaf. Träume ohne mich zu erinnern. Lasse den Tag vorbei streichen nur mit ein paar Schluck Wasser. Die Nacht bricht herein. Ich gehe ein wenig auf und ab, strecke mich, führe die beiden Kata aus, da ich es so gewohnt bin und lege mich wieder hin.

Am nächsten Morgen versuche ich, früh aufzustehen, die gesammelten Energien von gestern nutzen. Es gelingt mir nur teilweise, doch dann bin ich dennoch auf den Beinen. Ich nehme Lion Kräcker mit Milch zu mir und trinke Mineralwasser. Ich muss unbedingt hinausgehen, mich mit der Welt auseinandersetzen. Außerdem ist es fraglich, ob Lila einfach so zu mir kommen würde. Er befindet sich sicher irgendwo da draußen, und es gilt, ihn zu finden. Ich kleide mich an, packe einen Schirm in den kleinen, weißen Taschenrucksack, nehme mein Portemonnaie sowie die Haustürschlüssel und mache mich auf den Weg zum Palais des Arts im Zentrum Vannes. Ich gehe in die Bibliothek, um den Diskussionen der Bücher zuzuhören. Das ist ein wildes Gedenke, besonderes, wenn die philosophischen Bücher miteinander streiten. Am lustigsten finde ich jedoch die Krimis, die immer bei allen Themen mitzureden gedenken, selbst wenn sie überhaupt keine Ahnung haben.

Ich sitze auf einem weißen Tisch und lausche den gedruckten Gedanken, als ich plötzlich einen Blick von der linken Seite spüre. Ich bin verunsichert und weiß nicht, ob ich den Kopf wenden soll. Ich bleibe unverändert sitzen. Der Blick ruht weiterhin auf mir. Mein Herz beginnt zu pochen und meine Hände zittern. Schließlich springe ich auf und gehe in die andere Richtung zu den deutschen Büchern. Der Blick heftet sich auf meinen Rücken. Dann schickt er mir etwas wie Traurigkeit, bevor er sich senkt und seines Weges geht.

Meine Aufregung lässt nach. Ich blättere ein wenig in den deutschsprachigen Büchern. Ich öffne „Die vierte Wirklichkeit….“ und finde einen selbst gebastelten lila Stern vor. Ich bin verwirrt. Wer hat wohl diesen Stern in ein deutsches Buch gelegt. Doch nicht etwa der Blick? Wer sonst? Er muss gewusst haben, dass ich die deutsche Sprache spreche. Und er muss gewusst haben, dass ich dieses Buch öffnen würde.

Ich ärgere mich, dass ich nicht die Kraft hatte, dem Blick zu begegnen. Nun bin ich im Zweifel. Wenn der Blick mir Angst macht, kann er dann der Richtige sein? Vielleicht gefällt der Blick mir auch gar nicht. Am Ende war der Blick traurig. Vielleicht, weil er eine Antwort erwartet hat, einen Gedankenaustausch. Nein. Das fällt mir jetzt erst auf. Er sendete überhaupt keine Gedanken. Wie gibt es denn so etwas? Er ist doch nicht das Meer oder der Mond. Vielleicht gehört er zu den Schülern, von denen der Mond erzählt hat. Er beherrscht die Gedankenwelt. Das ist ja unfassbar. Eine unglaubliche Faszination erfüllt mich. Es kann sich nur um Lila handeln. Er hat mir den Stern gegeben, damit ich ihn erkenne. Vielleicht hat er damit gerechnet, dass ich vor ihm davonlaufe, dass ich zu einer anderen Begegnung als der die wir hatten, nicht fähig wäre. Er muss sehr traurig darüber gewesen sein, jedenfalls war es das, was ich spürte.

Ich sage mir, dass die Bibliothek einfach nicht der richtige Ort war. Wir sollten uns beim Sport treffen, dort, wo es laut ist, wo man sich durch Bewegung mitteilt. Ich halte den Stern in beiden Händen und konzentriere mich auf meine Idee. Wenn er jener ist, für den ich ihn halte, dann wird er die Botschaft ohne Schwierigkeiten empfangen.

Ich war so lange alleine, dass ich nicht weiß, wie man Blicken begegnet. Ich war solange alleine, dass ich nicht einmal weiß, ob ich daran etwas ändern möchte. Ich war solange alleine, dass ich der Zweisamkeit vielleicht nicht gewachsen bin.

Seiten 202 – 210

Schwerer Rückschlag

Mein Kopf erscheint mir so schwer. Ich stelle das Radio an und beginne zu bügeln. Das hat meist eine beruhigende Wirkung. Es kommen Nachrichten. Der französische Staatspräsident ist mit einer Wasserpistole beschossen worden. Zunächst klingt das lustig. Aber irgendwie spüre ich einen eigenartigen Beigeschmack. Ich gehe ins Internet und möchte mir das Ereignis genauer ansehen. Ich finde eine vermummte Frau vor, die auf den Präsidenten zielt. Später erfahre ich, dass auch in anderen Ländern, beinahe zeitgleich, auf Staatsoberhäupter Wasseranschläge erfolgt sind. Die Medien scheinen nicht zu wissen, was sie davon halten sollen. Die Berichterstattung reicht von Frauenwahnsinn bis zu terroristischen Scheinangriffen. In London war es der Polizei gelungen, eine Frau festzunehmen. Das Wasser werde analysiert, heißt es. Ich frage Marzin, ob er wüsste, was sich wohl zugetragen habe. Er hat keine Antwort darauf. Ich versuche etwas über die arretierte Frau in England herauszubekommen. Vielleicht besteht die Möglichkeit, mit ihr telepathisch in Verbindung zu treten. Der Versuch scheitert. Wir sind uns klar darüber, dass es sich bei dieser Person um eine mental trainierte Frau handelt. Ich sehe Angst in den Augen Marzins. Er spürt, dass er es hier mit einer Kampfansage zu tun hat. Hier sind sie nun. Die Feinde der Gedankenströme. Sie haben sich gruppiert und schlagen zu. Eine Videobotschaft erscheint bereits am nächsten Tag im Internet. Sie nennen sich „Die Namenlosen“. Ihre Erklärung ist niederschmetternd. Seit bereits einer Woche sei das Trinkwasser zahlreicher Hauptstädte mit Cholera Bakterien verseucht. Und den Führern der verschiedenen Nationen wünsche man die Pest an den Hals. Ob das wörtlich zu nehmen ist? Marzin glaubt schon.

„Ich fürchte, sie haben biologische Waffen. Ende der 1980er Jahren wurden in der Sowjetunion Forschungen bezüglich der Pest durchgeführt. Das erlangte „Produkt“ ist eine sprühbare Form von Pesterregern, die zudem noch resistent gegen Antibiotika sind. Kombiniert mit dem verseuchten Trinkwasser wird dies zu einem Massensterben führen.“

„Kann man sich nicht gegen Pest impfen?“ „Sicher, aber die Impfung ist schlecht verträglich und bietet auch nur 3-6 Monate Schutz. Ich weiß auch nicht, ob die biologische Waffe nicht soweit mutiert ist, dass vorhandene Impfstoffe greifen können. Des weiteren kann man nicht Menschen impfen, die durch Cholera geschwächt sind. Dann kommen noch praktische Probleme hinzu. Die Pharmaindustrie muss weltweit die Antibiotikaproduktion hochfahren. Und die Bereitstellung des Pestimpfstoffes nimmt auch Zeit in Anspruch. Irgendwann werden die Märkte ausreichend beliefert werden. Doch bis dahin sterben Hunderte, möglicherweise Tausende. Es wird ein Chaos geben. Die Masse wird nicht ruhig bleiben. Ich sehe es schon vor mir. Wie Paris zu einer Unterweltstadt wird.

 

Der schwarze Sommer

Während in den Regionen der September wie immer verlief, mit etwas Regen, Sonnenschein und Ruhe, herrscht in der Hauptstadt Ausnahmezustand. Der Kreis der Umgangstraßen wird durch das Militär abgeschirmt. Niemand darf die Stadt verlassen, sonst sprechen die Waffen. Panik bricht in manchen Vierteln aus. Plünderungen. Gewalt. Es wird geschätzt, dass etwa eine Million Menschen unter Cholera leiden. Die Pest, der sicherere Todesbringer, trifft zunächst das 8. und 16. Arrondissement. Bald wird bekannt, dass die aktuelle, französische Regierung der Vergangenheit angehört. Der Präsident und zahlreiche Minister erlagen den Folgen der Seuche. Die Führer der Regionen bilden einen gemeinsamen Rat und ergreifen Maßnahmen für Paris. Im Grunde herrscht Kriegsrecht. Die Einwohner kämpfen um Nahrung und Mineralwasser. Leichen säumen die Straßenzüge. Häuser und Geschäfte brennen. Durch die andauernde Hitze erhebt sich ein ungeheurer Gestank über der Stadt. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind lahmgelegt. Jede menschliche Begegnung wird in Frage gestellt. Die meisten isolieren sich.

Die Hilfe aus den Regionen läuft an. Medikamente, Mineralwasser, Grundnahrungsmittel. Ärzte erklären sich bereit, in die Stadt zu gehen. Sie tragen Schutzanzüge und werden vom Militär begleitet. Sie sind für einen bestimmten Bezirk oder Straßenzug zuständig. Die Menschen werden notdürftig in ihren Wohnungen versorgt. Marzin leitet die Rettungssanitäter der bretonischen Einheit. Täglich berichtet er mir von den Ereignissen, d. h. manchmal reden wir auch nur über das Wetter, um von den Schrecken abzulenken. Oder über die Kinder, was sie wieder Neues erfahren haben. Währenddessen sterben die Kinder von Paris qualvoll. Kann dies das Ziel der Namenlosen sein? Kinder zu töten. Wie tief muss der Hass sitzen, bevor man soweit kommt. Der Weg der Gedankenströme scheint solche Menschen kalt zu lassen. Alle Menschen sind Brüder, sagt Gandhi. Wir haben jedoch nicht mit der Härte der Schwestern gerechnet.

Marzin teilt mir mit, dass die Trinkwasserversorgung wieder gewährleistet sei. Spezialisten aus Marseille hätten die Trinkwasseraufbereitung im Griff, soweit man das sagen kann. Chemikalien befänden sich nun im Leitungswasser. Daher wird abgeraten, es zu trinken.

Des weiteren werde alles getan, um den Müll aus der Stadt zu bringen. Gleichzeitig erfolgt eine systematische Bekämpfung von Ratten. Sie könnten den Yersinia pestis tragen, der durch einen Biss oder infizierte Flöhe weitergeben werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass die biologische Waffe sich diesen Tieren bedient, ist hoch.

In den Medien wird nur über die Cholera berichtet. Das Wort „Pest“ dagegen wird ausgespart. Man spricht von punktuellen Todesfällen einer Bakterieninfektion und tut so als sei dies ebenfalls der Wasserverseuchung zuzuschreiben. Auch die Tatsache, dass das ganze Elend auf einen Angriff mit biologischen Waffen zurückzuführen ist, wird gerne unter den Tisch gekehrt. Marzin meint, der regionale Rat habe die Berichterstattung zensiert. Ich vermute, dass dies sogar sinnvoll ist, obwohl natürlich die freie Äußerung verhindert wird. Vielleicht geht es um geheime Ermittlungen gegen die Namenlosen und deren Hintermänner. Des weiteren wäre es möglich, dass rassistische Gewalt aufkommen würde. Wer wagt es, Frankreich anzugreifen und sein Volk vernichten zu wollen? Der Hass würde sich gegen Ausländer wenden. Folglich bleibt man bei der tragischen Choleratheorie und sendet Informationen über die aktuelle Lage und nicht über deren Ursache. Marzin schätzt, dass um die Hunderttausend der Infizierten ihrer Krankheit erliegen. Gar keine Chance haben die Pestopfer. Sie sterben alle. Marzins Gesichtszüge haben sich verhärtet. Er hatte bereits viel Elend in der Welt gesehen, doch dieses Massensterben in seiner Heimat war irgendwie eine andere Dimension. Zumal es sich hier nicht nur um eine schreckliche Epidemie, sondern um Krieg handelte. Doch auch jener hat einmal ein Ende. Wenn das Volk ausgeblutet ist. Oder wenn Krankheitserreger ins Winterstadium gelangen. Der Winter. Die Bakterienkonzentration in den Ratten ist geringer. Flöhe vermehren sich weniger und nehmen auch kleinere Mengen Pestbakterien auf. Es erfolgen keine Neuansteckungen. Die Cholera ist bereits früher ausgestanden. Die Welt atmet auf. Systematisch werden die Menschen mit einem verbesserten Impfstoff behandelt. Die Pharmaindustrie macht Milliardengewinne, sorgt jedoch auch dafür, dass die Medikamente in armen Ländern zur Verfügung stehen. Vielleicht hat sie zu den Gedankenströmen aufgeschaut.

Es gibt noch viel zu tun. Dennoch entschließt sich Marzin einige Tage nach Vannes zu kommen. Bevor er geht, blickt er noch einmal auf Paris. Nun liegt sie da, die Stadt an der Seine. Ausgelaugt. Müde. Abgekämpft. Die Schlacht ist vorbei. Viele kennen nun ihren Nachbarn. Oder wissen wie der Wohnungslose an der Ecke heißt. Manche gehen zu Fuß zur Arbeit oder fahren Fahrrad. Einige nehmen sich die Zeit, die Bäume anzuschauen, welche die Alleen säumen. Zahlreiche ziehen aufs Land, das sie einst verlassen hatten. Die Pariser bleiben. Der Winter wird kalt, eisig, sibirisch. Doch niemand beschwert sich. Ein Passant baut bei Porte d’Orléans einen Schneemann und setzt seinen Hut darauf. Am Place de la Nation streckt eine Frau die Nase in die Luft und lässt Schneeflocken auf ihr Gesicht fallen. Paris ist nachdenklich und sieht das Leben mit anderen Augen.

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