Die vierte Wirklichkeit…

Paranus Verlag (www.paranus.de)

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Autobiographie

Es gibt sicherlich unzählige Wirklichkeiten, wahrscheinlich mehr als in der Luft schwebende Staubkörner. Du siehst sie nur selten. Und was unsichtbar ist, kann nicht wirklich sein. Deshalb begnügen sich die meisten mit wenigen Wirklichkeiten. Die erste scheint die für uns bedeutsamste. In ihr bewegen wir uns auf die Landschaft blickend im Gleis- oder Kreisverkehr fort. In ihr steigen wir jeden Morgen auf. In ihr jagen wir hinter der Glücklichkeit her. In ihr erschießen wir uns mit 18 Jahren in der Hoffnung auf das ewige Nichts, das so unwahrscheinlich ist wie eine Wirklichkeit. Jede Entscheidung muss akzeptiert werden, weil jeder – und jede(1) und jedes(2) – einen eigenen Weg gehen muss.

Träume sind Schäume sagt meine Großmutter und schüttelt den Kopf über die Begegnung mit der zweiten Wirklichkeit. Sie schläft, um die erste zu ertragen, Erlebnisse zu verarbeiten, Lösungen unbewusst zu finden.

Ich habe wieder begonnen, ein Traumbuch zu führen. Selten sind meine Eindrücke klar und deutlich. Im Laufe der Zeit entstand eine kleine Sammlung von Symbolen, die sich wiederholten und eine persönliche Bedeutung haben.

Nichts von alledem, mit dem du dich beschäftigst, solltest du übertreiben. Es sei denn, du bist der Briefmarkensammelleidenschaft verfallen.

Zu viel Selbstforschung, zu wenig Stabilität im Alltag, zu viele erdrückende Schwierigkeiten, zu wenig klare Ziele… das führt in die dritte Wirklichkeit. Der überforderte Geist, die gestresste Seele schreit nach Ausgleich. Auf eine lang sich hinziehende depressive Phase folgt der nach Leben schreiende vulkanartige Ausbruch. Du durchlebst soviel von dir selbst, dass du auf die anderen mehr als eigenartig wirkst. Du bist dir sicher, die Welt und dein eigenes scheinbar so bedeutsames Dasein retten zu können.

Auf dem Rücksitz von weiß grünen Fahrzeugen, die von der besorgten oder aber genervten Bevölkerung alarmiert werden, hast du dann Zeit, dich von den schweren Aufgaben der dritten Wirklichkeit auszuruhen.

Ich hatte das Glück, halb nackt in einem männlichen Kloster erschienen zu sein, wo ich früh am Morgen mit einem herzhaften Frühstück belohnt wurde. Mit den herbeigerufenen sympathischen Herren mittleren Alters war ich gleich per Du. Sie wären nie darauf gekommen, die ernsten Handrasselspielzeuge anzulegen, was anderen, wie ich später hörte, widerfahren war.

Auf der Wache schrie ich den Arzt zusammen. Er litt für alle Ärzte, die mich mit Worten oder Gesten gequält hatten. Sie sperrten mich in einen Raum. Der Krankenwagen kam. Ich philosophierte über die Menschheit. Dem mitfühlenden, aufgeregten Jeepfahrer, der seinen Wagen wendete, um mich in meine gewünschte Richtung hin mitzunehmen, prophezeite ich, dass sein verlorenes Glück nicht an eine Kreuzung, sondern an einen Kreisel käme und zurückkehrte. Ich fragte mich, wie eine Frau mit Kind einen solchen Mann verlassen konnte.

Aussagen aus der dritten Wirklichkeit können ins Tiefdunkelblaue treffen, aber oft auch ins Himmelhellblaue. Der Zustand begünstigt die vierte Wirklichkeit….aber kein Arzt darf dir das zugestehen. Du bist krank und musst zurück in die erste Wirklichkeit, um in unserer Welt lebensfähig zu sein.

  • Tanne legt auf die weibliche Form wert.
  • Das ist meine Art der Steigerung.

 

Ich wollte immer schon einmal hierher kommen…

Ich dachte, der Krankenwagen brächte mich nach Heidelberg, wo ich wohnte und wunderte mich über die Fahrzeit. Die Ärztin bei der Aufnahme fragte, ob ich wüßte, wo ich sei. Woher hätte ich das wissen sollen? Niemand hatte mir irgend etwas erklärt. Vielleicht dachten sie, ich würde aggressionserfüllt ausrasten, und sie müßten mich ruhig spritzen. Dabei war meine Hauptschwierigkeit, daß ich keine Schuhe anhatte und es Winter war. Sie hätten es mir bedenkenlos sagen können. Ich wollte schon immer einmal in einer Psychiatrie wirkend einschreiten.

Den ersten Abend war ich damit beschäftigt, ausgewählten Personen meine manischen Phasen darzustellen. Außerdem stritt ich mich hartnäckig mit Cetin aus der Türkei, weil ich der Meinung war, er sei Inländer, und er immer wieder betonte: „Ich bin Ausländer“. Wir waren alle eine große Familie. Am Anfang…

Als der erfahrene Flötenspieler mich so sah, meinte er leise: „Den ersten Tag in der Klapse und gut drauf. Das gibt’s doch gar nicht!“ Der sportliche Erzengel war eher genervt von meinen Höhenflügen und bemerkte immer wieder: „Du lebst in einem Märchenland.“ Er hatte von zwei Frauen ein riesiges Nikolauspaket erhalten, und ich fand es furchtbar geizig, daß er nicht alles verteilte.

Die dritte Wirklichkeit ist selbstlos. Wenn du anfängst, an dich zu denken, dann wirst du langsam „gesund“. In der Zwischenzeit sollen dich Psychopharmaka auf den Boden der Tatsachen bringen. Fühl dich wohl mit Haldol!

 Haldol hat starke Nebenwirkungen.

Es geht auf die Motorik.

Du bewegst dich wie ein Roboter.

Deine Hände zittern und eine grausame innere Unruhe begleitet dich über Tage, Wochen.

Wenn sie mir das doch erklärt hätten!

Ich dachte, die Unruhe sei natürlich.

Ich wußte nicht, wie ich sie aushalten sollte.

Ich – eine eingefleischte Fernseherin – konnte kaum eine Minute hinschauen.

Dann mußte ich wieder gehen.

Hinsetzen, gehen, hinsetzen, gehen, hinsetzen, gehen, essen, hinsetzen, gehen, hinsetzen, gehen, reden, hinsetzen, gehen, hinsetzen, gehen…

Sofern du gehen kannst.

Manchmal müssen dich die Pfleger stützen.

Manchmal sieht niemand dein Gesicht, weil deine Haare wirr und ungepflegt vor ihm hängen.

Manchmal hast du einen Zungenkrampf, gegen den nur die dicke rote Akinetonpille hilft.

Manche Tage sind leichter, manche schwerer zu ertragen.

Die Haldolphase begann mit einem Becherchen brauner Flüssigkeit. Ich hätte mich geweigert, aber der Pfleger schaute mich fest an und betonte, daß es wichtig sei. Bitter schmeckte es. Furchtbar bitter. Ich wollte keinen Saft dazu, wollte das Bittere ausleben. Die Bitterkeit.

 

Stadt der Wohnungslosen (S. 83).

 Ich begleite zwei meiner Briefe zur am Südzipfel von Paris gelegenen Post. Da ich heute kein Ziel vor meinen Augen sehe und dennoch fahren möchte, steige ich in den Bus Nummer 38 ein, welcher sich in Richtung Stadtmitte waffenlos vorkämpft.

Observatoire Port Royal. In der dortigen Sporthalle spielte ich vor zehn Jahren Handball. Mit Philologiestudenten und –studentinnen aus Benin, aus Laos, aus Deutschland, aus Frankreich, aus Belgien. Unerschütterliche Freunde seit einem Jahrzehnt.

Vom Bus aus sehe ich einen Mann nahe der Eingangstür des Sportzentrums liegen und schlafen. Einer von vielen Wohnungslosen.

Es gibt nur wenige Menschen, die alle sehnsuchtsvollen Wirklichkeiten an einem Ort vereinigen können. Die sich dort wiederfinden, wo alle Träume dich wie ein zauberhaft streichelnder Wirbelsturm schützend umkreisen.

In der Stadt der Wohnungslosen wiegt die Straße, der Métrotunnel, die annähernd zugfreie Nische der ersten Wirklichkeit folgenschwer. Hunger, Kälte, Schmutz, Schmerzen versperren deinen Gedankenraum so sehr, daß du das Tor zu anderen Wirklichkeiten nicht finden kannst.

Und so sitzen sie nun auf einer Treppe, mit einem Schild in der Hand, auf welchem steht: „Ich schäme mich. Ich bin hungrig.“ Und so sitzen sie nun am Rand eines Métrotunnels, jammernd mit einem künstlich schlafenden Kind im Arm. Und so sitzen sie nun mit Hunden im Regen und warten darauf, daß du ein paar Francs in ihr Becherchen wirfst.

In Arcueil am Eingang des Einkaufszentrums werden Dasitzende von Ordnungshütern in den Regen geschickt. Wir, die wichtigen, francsbringenden Einkäufer, sollen in unserem konsumhaften Wohlbefinden nicht gestört werden.

Unter den um Hilfe Bittenden befinden sich immer mehr Frauen, fällt mir auf. Frauen, die nicht notleidend aussehen. Gepflegt. Sauber gekleidet. Und dennoch arbeitslos, wärmelos, versicherungslos, freundelos, mittellos.

Notre Dame ist zu sehen. Der luftreifige Fahrgastbeweger überquert gerade die von der Seine umschlungene Insel.

Châtelet. Ich steige aus, um gleich wieder meine Rückreise in Angriff zu nehmen. Mit der Métrolinie vier. In den Tiefen von Châtelet stapelt sich der Müll. Ich stelle mir vor, wie der grünliche, auf Reifen schwebende Zug einen riesigen Abfallberg vor sich her schiebend in die Métrostation einfährt. Die Zunft der Ratten scheint sich noch nicht an der endlosen Müllnahrungskette vergriffen zu haben. Leider.

Ich befördere meinen Körper durch die ewige Neonnacht der Tunnelgewölbe. Die blinde Frau, die seit zehn Jahren an der Ecke in Richtung Porte d´Orléans gestanden hat, ist nicht mehr zu sehen. Sie hinterläßt eine leise Gedankenspur. An der größten Kreuzung haben sich klassische Musiker niedergelassen. Wortlose Instrumente klingen durch sämtliche Gänge des unterirdischen Labyrinths.

Ein Almosenanbeter in Weiß gleicht Mahatma Gandhi. Auf seiner Stirnmitte glänzen kleine Sterne. Er scheint, in einer der ersten fernen Wirklichkeit zu leben. Unsere Augen treffen sich einen Bruchteil einer Sekunde.

In Paris schaust du den Menschen nicht ins Gesicht, denn ein Blick gleicht einem Versprechen. Sie wollen Geld oder Liebe, frei nach Jürgen von der Lippe. Und dennoch gibt es nichts Schöneres als in Gesichter einzutauchen. Ganz tief. Eine Entdeckungsreise. Jeden Tag neu.

Selten begegnet dir ein Gesicht zweimal. Zu schnellebig, zu riesenhaft ist die Stadt der Wohnungslosen. Und falls doch, so scheint dir dieser Mensch unendlich vertraut.

Irgendwo im Asphalt hinterläßt der Freund des Pferdes unsichtbare Spuren. Irgendwo im Asphalt hinterlasse ich sichtbare Spuren. Meine Kraft der vierten Wirklichkeit kämpft sich durch die über der Stadt schwebende Gedankenwelt bis zu ihm vor….

Saint Michel. Die Ziehharmonikamusiker verschonen die Fahrgäste dieses Zuges. Dafür krächzt ein Francssammler seine Lebensgeschichte in fünf Sätzen durch den Wagen. Ich frage mich unwichtige Dinge. Wieviel mag dieser Mann wohl täglich verdienen?

Saint Placide. Ein 2000-Jahr-Kalender-Verkäufer steigt zu. Mit Erfolg. Ich kaufe selten etwas.

Gehörlose bieten in den RER-Zügen lustige Schlüsselanhänger an. Ein halbschielender Hase in Lila macht mir heute noch Freude. Gelegentlich erwerbe ich auch die Obdachlosenzeitung „Der Wanderer“, deren Erlös zu 2/3 an den Verkäufer geht. Meistens stehen diese an Supermärkten oder an der Post. Ich schätze sie, denn sie sind unglaublich diskret. Es ist, als suche der Herausgeber gezielt jene Persönlichkeiten aus.

Die Métro strebt unaufhaltsam in Richtung Süden der Stadt. Ich lehne meinen Kopf ans Fenster. Er folgt dem Rütteln des Zuges. Meine Mundwinkel sind traurig. Und dennoch bin ich froh, hier zu sein. Hier, in diesen künstlichen Unterführungen. Hier, in dieser geruchseigentümlichen Röhre. Hier, unter französischsprachigen Menschen. Hier, nur zwei Métrolängen entfernt von ihm.

Porte d´Orléans. Endstation. Wieder einmal. Der Müll ist verschwunden. Ich bin enttäuscht.

Der Bus 197 wartet bereits. Busse entfalten sich in ihrer Ruhe. Niemand verlangt etwas, bittet um Almosen. Denn jede und jeder Einsteigende muß seine Fahrkarte vorzeigen. Bus fahren ist Luxus. Und Obdachlose leisten ihn sich nicht.

Champion, Atac, wir fahren durch die frühwinterliche Dunkelheit. Die Strecke ist zu kurz, um in Gedanken zu reisen.

Vache noire. Ich steige aus, überquere die mehrspurige Nationalstraße und gelange in meine vorübergehende Unterkunft. Die Tage gleiten dir aus den Händen, die Zeit rast und kriecht zugleich…. in der Stadt der Wohnungslosen.

Paranus Verlag (www.paranus.de)

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